Follow us on Twitter

Follow us on Facebook

Deutschland – Kein Soldat soll gegen seinen Willen nach Litauen

Okt 4, 2023 | Studien & Berichte | 0 comments

Das Europäische Zentrum für Terrorismusbekämpfung und Nachrichtdienst, Deutschland und Niederlande 

Warten auf Boris Pistorius: Auch drei Monate nach der Ankündigung weiss niemand, was aus der deutschen Kampfbrigade in Litauen wird
nzz – Es war gut zwei Wochen vor dem Nato-Gipfel, als der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius sich und die Ampelregierung gehörig unter Druck setzte. Die Bundesrepublik, kündigte der Sozialdemokrat Ende Juni in Vilnius vollmundig an, werde schon bald eine Kampfbrigade des Heeres mit etwa 4000 Soldaten fest in Litauen stationieren. Weder das eigene Ministerium noch die Bundeswehr oder das Nato-Hauptquartier wussten von den Plänen. Seine militärischen Ratgeber hatten Pistorius strikt abgeraten, weil sie die Möglichkeiten für Ausbildung und Training in Litauen für sehr begrenzt hielten.

Auch drei Monate später gibt es nicht viel mehr als diese Ankündigung. Doch es deuten sich erste Überlegungen an. Nach NZZ-Informationen soll das Verteidigungsministerium erwägen, keine der acht vorhandenen Heeresbrigaden ins Baltikum zu schicken, sondern eine neue Kampfbrigade aufzustellen, ausgerüstet mit Panzern, Artilleriegeschützen, Fahrzeugen und anderen Waffensystemen. So ist es im Heer zu hören.

Die Soldaten, Waffen und Ausrüstung für diese Litauen-Brigade müssten allerdings aus den bisherigen Verbänden «herausgeschwitzt» werden, heisst es. Zusätzliche Truppen und Gerät werde es nicht geben. Doch schon heute sind die acht Brigaden personell unterbesetzt und materiell ausgezehrt. Das liegt zum einen daran, dass in den vergangenen anderthalb Jahren ein Teil der Waffen, der Munition und andere Ausrüstung an die Ukraine abgegeben werden mussten. Zum anderen hat die dramatische Unterfinanzierung der Bundeswehr in den zurückliegenden 30 Jahren dafür gesorgt, dass es den gesamten deutschen Streitkräften an ausreichend einsatzfähigem Gerät fehlt.

Kein Soldat soll gegen seinen Willen nach Litauen

Die Stationierung einer neunten Heeresbrigade in Litauen dürfte allerdings noch durch ein weiteres Problem erschwert werden. Es müssen sich 4000 Soldaten finden, die dauerhaft im Baltikum arbeiten wollen. Ein Bericht des «Spiegels» sorgte nun für Schlagzeilen, wonach «nur» jeder fünfte Soldat des Heeres bereit sei, für längere Zeit nach Litauen zu gehen. Das habe eine «Schnellumfrage in den infrage kommenden Verbänden» ergeben. In der Bundeswehr, so berichtete das Magazin, würden daher die Zweifel wachsen, dass sich das nötige Personal finden liesse. Erschwerend käme eine Äusserung von Generalinspekteur Carsten Breuer hinzu, dass kein Soldat gegen seinen Willen nach Litauen geschickt werden solle.

In der Bundeswehr gibt es auf diese Berichterstattung hin einige bemerkenswerte Reaktionen. So bezweifelte ein ranghoher Offizier einer Heeresbrigade die Aussagekraft der «Schnellumfrage». In seinem Kommandobereich sei ihm jedenfalls keine solche Umfrage bekannt, erklärte er. Ein anderer sagte, wenn tatsächlich jeder fünfte Soldat des Heeres bereit sei, nach Litauen zu gehen, dann seien das immerhin 12 000 Männer und Frauen – was für drei Brigaden reichen würde. Ein Offizier aus dem Verteidigungsministerium verwies auf den Leiter des von Pistorius eingerichteten Planungsstabs, Christian Freuding. Dieser habe gesagt, dass es bei der Stationierung in Litauen nicht vollständig nach Freiwilligkeit gehen könne. Zusammengefasst: alles halb so wild.

Tatsächlich würde die Bundeswehr nicht zum ersten Mal mehrere tausend Soldaten im Ausland stationieren. In den USA etwa gab es noch in den nuller Jahren mehrere Stützpunkte der Luftwaffe, an denen mehr als 3000 Ausbilder und Unterstützungspersonal dienten. Seit 13 Jahren gibt es zudem in Illkirch-Graffenstaden ein Jägerbataillon des Heeres mit gut 700 deutschen Soldaten. Illkirch liegt nahe der französischen Stadt Strasbourg. Der Verband ist Teil der Deutsch-Französischen Brigade. Die Soldaten werden regulär für mehrere Jahre versetzt, eine rechtliche Handhabe gegen die Stationierung im Ausland haben sie nicht. Doch die meisten gehen freiwillig dorthin, da sie im Ausland einen Sold bis zum doppelten Betrag ihres alten beziehen können.

Die Planlosigkeit im Ministerium verärgert die Truppe

Das Beispiel von Illkirch gilt in der Bundeswehr als Präzedenzfall für Litauen. Warum solle im Nato-Land Litauen nicht möglich sein, was im Nato-Land Frankreich funktioniere, heisst es. Generalinspekteur Breuer liess bereits verlauten, dass es für die Stationierung im Baltikum neben finanziellen Anreizen weitere attraktive Leistungen für die Soldaten geben solle. Dabei gehe es etwa um Kindergärten, eine deutsche Schule und Arbeitsplätze für die Lebenspartner, damit die Soldaten ihre Familien mitbringen könnten. Ausserdem, so ist im Heer zu hören, gebe es Überlegungen, einen Flugpendelverkehr für Heimreisen an den Wochenenden einzurichten.

Doch ein echter Plan für die Litauen-Brigade existiert in der Bundeswehr nicht. In den Auslandseinsätzen im Kosovo und in Afghanistan waren rotierende Verbände eingesetzt; die Kontingente blieben vier bis sechs Monate, dann wurden sie abgelöst. Der Einsatz war theoretisch freiwillig, kein Soldat konnte gezwungen werden. Praktisch wurden die vom Bundestag mandatierten Verbände aber von Anfang an personell so aufgestellt, dass sie geschlossen in den Einsatz gehen konnten. Das war nötig, weil die Soldaten in den Bataillonen und Kompanien aufeinander eingespielt sein mussten. Es herrschte ein «freiwilliger Zwang», wie die Soldaten das nannten.

Im Heer wird denn auch weniger Kritik an der Absicht geäussert, eine Brigade in Litauen zu stationieren. «Wer nicht verstanden hat, dass dies, zumal in der heutigen Lage, zu unserem Beruf gehört, der hat in der Bundeswehr nichts verloren», sagt ein Offizier. Es ist vielmehr der Eindruck, dass es im Verteidigungsministerium nach der Ankündigung von Pistorius keinen Plan gibt, wie die Stationierung der Litauen-Brigade erfolgen soll, der in der Truppe sauer aufstösst.

Litauen will die Brigade lieber heute als morgen

Die deutsche Regierung hat Litauen und den Nato-Partnern versprochen, die ersten Verbände bereits im Jahr 2025 zu stationieren, sofern die Infrastruktur dann vorhanden ist. Die Regierung in Vilnius hat klargemacht, dass es daran nicht scheitern werde. Sie will die deutsche Brigade lieber heute als morgen haben. Im Heer heisst es, dass im nächsten Jahr zunächst der «Aufstellungsstab» und eine Unterstützungskompanie nach Litauen verlegt werden könnten. Die Frage sei nur, wohin. Auch der Stationierungsort der Brigade ist bisher nicht entschieden.

In Anbetracht der vielen Unklarheiten gibt es laut dem Bundeswehrverband, einer Art Gewerkschaft der Soldaten, in der Truppe grosse Verunsicherung. Der Minister solle endlich informieren, wie der Verband in Litauen aufgestellt sein werde, fordert der Verbandsvorsitzende Andre Wüstner. Doch das dürfte noch dauern. Ursprünglich sollte Pistorius Ende September dem Verteidigungsausschuss im Bundestag seine Überlegungen vorstellen. Doch da weilte er mehrere Tage lang im Baltikum. Nun wird er am 11. Oktober im Ausschuss erwartet.

Es steht allerdings nicht zu erwarten, dass der Minister dort eine detaillierte Entscheidung verkündet. Zu vieles scheint noch unklar. So ist etwa die Frage zu erklären, wie die Litauen-Brigade zusammengesetzt sein soll: aus zwei Panzerbataillonen und einem Panzergrenadierverband oder zwei Grenadierverbänden und einem Panzerbataillon. Die Antwort auf diese Frage macht nicht nur einen Unterschied in der Kampfkraft und im Einsatzwert, sondern auch im Personalansatz. Ein Panzerbataillon hat etwa 250 Soldaten weniger als ein Grenadierverband. Schickt Pistorius also zwei Panzerbataillone, dann würden in der Summe mehr Soldaten in Deutschland verbleiben.

Das wiederum dürfte vor allem Ministerpräsidenten und Bürgermeister interessieren, aus deren Orten die deutschen Soldaten und das Gerät für die Litauen-Brigade kämen. Besonders in strukturschwachen Regionen stellt die Bundeswehr nach wie vor einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Zugleich ist die Stationierung einer kampfstarken Brigade im Baltikum eines der Leuchtturmprojekte der sicherheitspolitischen Zeitenwende in Deutschland. Es steht nicht zu erwarten, dass Verteidigungsminister Pistorius auf Belange der betroffenen Kommunen und Bundesländer gross Rücksicht nimmt. Bei der Litauen-Brigade geht es nicht nur um seinen politischen Ruf, sondern vor allem um die Glaubwürdigkeit Deutschlands.

Das Europäische Zentrum für Terrorismusbekämpfung und Nachrichtdienst, Deutschland und Niederlande 

 

Related articles:

Follow us on Twitter

Follow us on Facebook