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Terrorismus in Europa – Tiktok-Terroristen

Aug 25, 2024 | Studien & Berichte | 0 comments

Das Europäische Zentrum für Terrorismusbekämpfung und Nachrichtdienst, Deutschland und Niederlande -ECCI

Terrorismus in Europa: «Es gibt genügend Hinweise, dass sich etwas Grösseres ankündigt»

Artikel von Andreas Ernst

t online -Herr Neumann, Sie beschreiben in Ihrem Buch einen neuen Typus von Gewalttätern, nämlich Tiktok-Terroristen. Was ist neu daran?

Zum einen sind diese Täter extrem jung. Ich habe seit Oktober 2023 alle knapp 60 wegen Terrorverdachts in Westeuropa Verhafteten erfasst. Zwei Drittel von ihnen sind Teenager, also zwischen 13 und 19 Jahre alt. Das ist neu.

Noch vor zehn Jahren war diese Altersgruppe eine Ausnahme, jetzt ist sie die Regel. Dazu kommt, dass sich diese Verdächtigen ausschliesslich oder hauptsächlich online radikalisieren. Schon vor zehn Jahren spielte das Internet eine grosse Rolle. Aber es gab daneben mindestens eine Person «offline», einen radikalen Prediger zum Beispiel, die den letzten Anstoss zur Tat gab. Das neue Muster zeigt sich auch in der Schweiz: Denken Sie an die neun Verhaftungen von Teenagern im Laufe der letzten Monate, zum Beispiel in Schaffhausen und dem Thurgau an Ostern. Oder an den Täter, der im März in Zürich einen orthodoxen Juden auf offener Strasse niederstach.

Wie muss man sich diese Selbstradikalisierung vorstellen?

Sie beginnt auf den grossen Plattformen wie zum Beispiel Tiktok oder Instagram, die sehr junge Leute ansprechen und stark algorithmisch betrieben werden. Wenn Sie dort dreimal auf ein Video klicken, das zum Beispiel mit Palästina zu tun hat, dann kriegen Sie fast nur noch entsprechende Inhalte zu Gesicht. Und weil sich diese Plattformen schwer damit tun, ihre Inhalte zu kontrollieren, fällt es den Nutzern leicht, immer und immer wieder jihadistische und islamistische Propaganda zu konsumieren. Die Betroffenen geraten in eine Spirale, die dazu führt, dass sie früher oder später in eine geschlossene Gruppe geraten.

Zum Beispiel auf Telegram. Dort tauschen sie sich verschlüsselt mit anderen aus, die ähnliche Interessen haben. Sie schicken sich gegenseitig Videos von Anschlägen und geilen sich an der dargestellten Gewalt auf. Im Zentrum stehen fast immer Gewaltphantasien, die Ideologie spielt eine untergeordnete Rolle. Irgendeinmal stellt einer die Frage: Warum machen wir nicht auch einmal so etwas? So lief das auch bei den Teenagern aus Schaffhausen und dem Thurgau, die sich mit deutschen Altersgenossen vernetzten. Die Telegram-Gruppe, die zuerst dem Austausch von Videos gedient hatte, wurde schliesslich zum Instrument für die Planung von konkreten Angriffen.

Welches soziale und psychologische Profil haben diese Jugendlichen?

Man muss da vorsichtig sein, denn die Fallzahlen sind klein. Viele haben einen Migrationshintergrund, sind aber nicht selber eingewandert, sondern leben in zweiter oder dritter Generation hier. Es gibt aber durchaus auch Jugendliche ohne migrantische Herkunft. Und sicher sind es gehäuft junge Menschen mit psychischen Vorbelastungen. Aber wie gesagt: Ein ganz klares Muster haben wir noch nicht.

Dieses Täterprofil entspricht eigentlich eher jenem von (apolitischen) Amokläufern – zumal die jihadistische Ideologie eine untergeordnete Rolle spielt?

Ja. Generell gilt, dass spätere Täter, die sich im Internet radikalisieren, überdurchschnittlich oft eine Geschichte mit psychischen Erkrankungen haben. Ihnen gibt die jihadistische Ideologie eine Möglichkeit, ihre Gewaltphantasien auszuleben. Diesen Zusammenhang zwischen Krankheit und Gewalttat gibt es natürlich auch im rechten Terrorismus. Es geht, wie gesagt, weniger um eine ideologische Aufrüstung als um eine Radikalisierung hin zu der Tat.

Kann man da überhaupt von Terroristen sprechen?

Das ist eine berechtigte Frage. Für den Terroristen steht ja die Gewalt im Dienst eines politischen Ziels. Bei diesen Einzeltätern sind die politischen oder ideologischen Vorstellungen höchstens bruchstückhaft. Im Zentrum steht der Hass. Der Hass gegenüber der Gesellschaft, der Hass gegenüber anderen. Leider ist die Diskussion um die Motive der Gewalttäter meist politisiert. Das rechte Lager pathologisiert den Rechtsterrorismus als die Tat von Kranken. Ist aber ein Muslim der Täter, dann wird reflexhaft darauf geschlossen, dass es sich um jihadistischen Terrorismus in politischer Absicht handle. Und genau umgekehrt argumentieren viele Linke. Dabei ist es wichtig, genau hinzuschauen: Ein paranoid-schizophrener Gewalttäter kann definitionsgemäss kein Terrorist sein.

Und doch übernimmt der IS auch im Anschluss an solche Gewalttaten quasi die Verantwortung dafür und versucht, sie auf sein Konto zu buchen?

Das ist die Strategie des IS. Er sagt: Wir sind im Moment nicht in der Lage unsere «Soldaten» nach Europa zu schicken wie 2014 und 2015. Aber wir rufen unseren Sympathisanten zu: Auch du kannst ein Kämpfer werden. Du brauchst nicht einmal nach Syrien zu kommen oder der Organisation beizutreten. Es reicht, wenn du ein Video aufnimmst und dich zum IS bekennst, bevor du zur Tat schreitest. Wir bekennen uns danach zu dir, und du bist Soldat oder sogar ein Märtyrer. Damit steigert der IS sein Potenzial. Eine andere Strategie ist es, dass Funktionäre des IS in Internet-Räumen aktiv nach möglichen «Rekruten» suchen und sie dann als Mentoren anleiten. Der Verdacht, ein Mentor zu sein, fällt übrigens auch auf den Vater einer 15-Jährigen aus Düsseldorf, die die Terrorgruppe aus Baden-Württemberg, Schaffhausen und dem Thurgau initiiert hatte – der Prozess wird zeigen, ob das zutrifft.

Nach dem 7. Oktober und dem Beginn des Gaza-Kriegs hat Europol vor der Zunahme von Anschlägen von «lone wolves» gewarnt, also genau von den Einzeltätern und Kleingruppen, von denen wir sprechen. Lässt sich darüber schon etwas Verbindliches sagen?

Ich denke schon. Seit dem 7. Oktober letztes Jahr hatten wir in Westeuropa 6 kleinere islamistische Anschläge und 21 versuchte Anschläge. Wenn wir das mit 2022 vergleichen, ist das ein Anstieg um das Vierfache. Das ist jetzt nicht die grosse Welle, weil es keinen grossen Anschlag gab. Hätte der geplante Anschlag in Wien auf das Taylor-Swift-Konzert stattgefunden – und hätte es viele Tote gegeben –, dann würden wir jetzt anders sprechen. Ich glaube, dass es genügend Indizien dafür gibt, dass sich da etwas Grösseres ankündigt. Die «Einschläge», wenn man so will, werden häufiger, und sie kommen näher. Aber wir haben es in der Hand, eine neue Welle abzuwenden, wenn wir das Richtige tun. Auch frühere Wellen kündigten sich an.

Der Syrien-Konflikt begann 2011 – und die grossen Anschläge in Europa kamen dann erst 2014, 2015 und 2016. Ich denke, der 7. Oktober und der Gaza-Krieg haben viel ausgelöst. Er verursacht einen riesigen Motivationsschub, der viele Personen aktiviert. Die Zeit, bis sie bereit sind, zuzuschlagen, müssen wir nutzen. Zum Beispiel, um Strafverfolgungs- und Präventionsstrategien auf ganz junge Täter einzustellen. Oder um nachrichtendienstliche Fähigkeiten im virtuellen Raum zu verstärken.

Bei Grossangriffen, vor denen Sie warnen, sind die Täter aber keine Tiktok-Terroristen . . .

Nein, es gibt daneben auch neue Netzwerke. Seit ein paar Jahren ist der IS-K, ein Ableger aus Afghanistan, wieder aktiver. Er hat in Zentralasien in Tadschikistan, Usbekistan und so weiter stark rekrutiert. Diese Täter sind verantwortlich für den Anschlag auf eine Konzerthalle im März in Moskau, bei dem 143 Menschen starben, oder für jenen auf eine katholische Kirche in Istanbul im Januar, bei dem ein Mann getötet wurde, sowie weitere Anschläge in Iran. In Westeuropa hat der IS-K mindestens ein halbes Dutzend Anschläge versucht, die vereitelt wurden. Diese zwei Entwicklungen – die wiedererstarkten Profis des IS-K auf der einen Seite und die Teenager-Terroristen aus dem Westen auf der anderen Seite – geschehen grösstenteils unabhängig voneinander.

Eine letzte Frage zum Zusammenhang von Islam und Gewalt. Gilles Kepel und Olivier Roy, zwei führende französische Forscher, haben da konträre Meinungen. Kepel sieht den Terrorismus als Folge einer Religion, die immer radikalere Varianten und Vertreter hervorbringt. Für Roy dagegen geht es um die Gewaltbereitschaft von Marginalisierten, die sich oberflächlich den Schein der Religiosität geben. Die Gewalt ist Selbstzweck. Wo stehen Sie?

Die Positionen sind – wie oft in französischen Debatten – sehr absolut gesetzt. Dennoch hat diese Auseinandersetzung viele neue Erkenntnisse zutage gebracht. Aber jeder, der Radikalisierung ernsthaft studiert, sieht, dass beide Elemente eine Rolle spielen. In jeder Generation gibt es bei jungen Menschen eine revolutionäre Grundenergie, die sich in ganz verschiedene Richtungen wenden kann. Nach links, nach rechts oder eben auch zu einem religiösen Fanatismus. Insofern stimme ich Roy zu. Aber Kepel weist zu Recht darauf hin, dass da auch Theologie beziehungsweise Ideologie im Spiel ist. Deshalb schwingt bei dieser Debatte noch viel mehr mit. Was bedeutet es, in Europa Muslim zu sein? Wo ist der Platz des Islam in unseren Gesellschaften, und wie kann er integriert werden? Viele Leute weichen dieser Debatte aus, aber das ist ein Fehler. Denn mit jedem Anschlag wird diese Diskussion schwieriger und die Polarisierung in unserer Gesellschaft stärker. Das ist ja gerade das Ziel des Terrorismus. Er will die Muslime an den Rand unserer Gesellschaft drängen, damit sie dort ansprechbar werden für die Idee eines Religionskrieges. Das müssen wir verhindern.

Im September erscheint von Peter R. Neumann im Rowohlt-Verlag: Die Rückkehr des Terrors. Wie uns der Dschihadismus herausfordert.

Das Europäische Zentrum für Terrorismusbekämpfung und Nachrichtdienst, Deutschland und Niederlande -ECCI

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