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Ukraine braucht Zeit, für die Europäische Union nominiert zu werden

Okt 8, 2023 | Studien & Berichte | 0 comments

Das Europäische Zentrum für Terrorismusbekämpfung und Nachrichtdienst, Deutschland und Niederlande 

EU-Erweiterung: Die Ukraine muss sich wie alle anderen Beitrittskandidaten auch gedulden

NZZ – Die Geschichte der EU und ihrer Vorgängergebilde ist auch eine Geschichte der Erweiterung. Durch Nord-, Süd- und Osterweiterungen wuchs der Klub von 1973 bis 2013 von 6 auf 28 Mitglieder. Seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs sind es 27.

In Zukunft könnten es etwa 35 Mitgliedländer sein. Offiziell haben derzeit acht Länder den Status als Beitrittskandidaten – von Albanien über Montenegro bis zur Türkei und zur Ukraine. Hinzu kommen Georgien und Kosovo als «potenzielle Kandidaten». Für Kandidatenländer verspricht ein EU-Beitritt vor allem mehr Wohlstand und mehr Sicherheit.

Eine Gratwanderung

Im Kern setzt die EU darauf, dass sie mit Erweiterungen mehr Stabilität exportiert, als sie Instabilität importiert. Eine Gratwanderung ist angesagt: Ein «zu langes» Hinausschieben von Beitritten kann die Reformlust in den Kandidatenländern dämpfen, mit «zu raschen» Beitritten importiert die EU einen Haufen Ärger. Die demokratischen Rückschritte in Ungarn und Polen illustrieren die Risiken. Sind Länder einmal beigetreten, kann sie die EU faktisch kaum mehr hinauswerfen.

Lange herrschte in der EU denn auch Erweiterungsmüdigkeit, doch Russlands Krieg in der Ukraine hat die Karten neu gemischt. Auch wenn man die Türkei ausklammert, die zurzeit viel eher theoretische als praktische Beitrittskandidatin ist, könnten kommende Erweiterungen die EU durchschütteln.

Der Elefant im Raum ist die Ukraine, die innert weniger Jahre beitreten möchte, aber auch losgelöst vom Krieg bei einem Beitritt die EU vor grosse Probleme stellt. Der Grund ist die ukrainische Kombination aus grosser Bevölkerung, tiefem Lebensstandard, bedeutender Landwirtschaft und hoher Korruption. Auch die Beitrittskandidaten aus dem Westbalkan werden alles andere als Selbstläufer sein.

Der Umgang mit der Erweiterungsfrage war ein Kernthema des Treffens der EU-Staats- und Regierungschefs vom Freitag in Granada. Formale Beschlüsse waren nicht vorgesehen. Es ging, wie es diverse Exponenten sagten, um den Auftakt einer strategischen Debatte auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. Mehrere Gipfelteilnehmer nannten die Erweiterung eine «geostrategische Notwendigkeit». Gleichzeitig betonten sie aber auch, dass die Kandidaten vor einem Beitritt die üblichen Bedingungen erfüllen müssten – etwa in Sachen Demokratie, Rechtsstaat und Übernahme des EU-Regelrahmens.

Für Kontroversen sorgt die Kalenderfrage: Soll es ein (unverbindliches) Zieldatum für die Erweiterung geben? Einige Kandidatenländer sprechen von «spätestens» 2030. Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rats, sprach sich für ein Zieldatum aus: Die Nennung eines möglichen Aufnahmedatums sei wichtig für die Motivation der Kandidatenländer und der EU.

Die Warnung von Juncker

Doch einen Konsens für ein Zieldatum gibt es zurzeit nicht. Die Schlusserklärung vom Freitagabend zum Gipfeltreffen verzichtet auf jegliche Zeitangaben. Vor allem drei Gründe waren zu hören: Die Voraussetzungen seien bei jedem Beitrittsaspiranten unterschiedlich, entscheidend sei das individuelle Reformtempo der Kandidaten, und man solle nicht zu viel versprechen. Die Schlusserklärung beschränkt sich bei diesem Thema auf die Bemerkung, dass die Beitrittsaspiranten ihre Reformen intensivieren müssen, namentlich in Sachen Rechtsstaat.

Offen ist auch der Zeitplan zur Aufnahme offizieller Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine. Ungarns streitbarer Premierminister Viktor Orban meldete seine Opposition gegen eine rasche Verhandlungsaufnahme an: Die Zeit sei nicht reif für einen solchen Beschluss, zuerst müsse man die Folgen für den Finanzhaushalt und die Landwirtschaftspolitik der EU abschätzen.

Der frühere EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker hatte diese Woche in einem Interview mit der Zeitung «Augsburger Allgemeine» davor gewarnt, der Ukraine falsche Hoffnungen zu machen: «Wer mit der Ukraine zu tun gehabt hat, der weiss, dass es ein Land ist, das auf allen Ebenen der Gesellschaft korrupt ist. Trotz den Anstrengungen ist es nicht beitrittsfähig, es braucht massive interne Reformprozesse. Wir haben mit einigen neuen Mitgliedern schlechte Erfahrungen gemacht, etwa was Rechtsstaatlichkeit angeht. Das ist nicht noch einmal zu wiederholen.» Diese Haltung war zum Teil auch bei Gipfelteilnehmern zu spüren. Gleichzeitig will man aber mitten im Russland-Krieg der Ukraine keine Türen zuschlagen, um keine Zweifel am Sukkurs der EU zu wecken.

Interner Reformbedarf

Jede (potenzielle) Erweiterung ruft nach der Frage des Reformbedarfs bei den EU-internen Spielregeln. Die Schlusserklärung des Gipfeltreffens anerkennt den internen Reformbedarf, wird aber nicht konkreter. Die zentralen Themen sind jedoch bekannt. So sind in gewissen Politikbereichen wie der Aussen- und Sicherheitspolitik und in Steuerfragen Beschlüsse nur mit Einstimmigkeit möglich. Ein einziges Land kann damit Beschlüsse blockieren. Mit jedem zusätzlichen Mitglied steigt die Blockadegefahr. Viele Stimmen fordern die Abschaffung der Hürde der Einstimmigkeit in den genannten Politikbereichen und den Ersatz durch die Vorgabe eines qualifizierten Mehrs.

Eine EU-Erweiterung hätte auch massive Auswirkungen auf den Finanzhaushalt. So hat die EU-Verwaltung laut Medienberichten errechnet, dass die Ukraine unter den geltenden Finanzregeln für eine siebenjährige Finanzplanungsperiode total 186 Milliarden Euro bekäme und beim Beitritt der sechs Kandidaten aus dem Balkan sowie der Moldau und Georgien weitere 74 Milliarden Euro zu den EU-Neulingen fliessen würden.

Bisherige Nettoempfänger erhalten beim Beitritt ärmerer Staaten plötzlich weniger, oder sie mutieren gar zu Nettozahlern. Ähnliche Herausforderungen stellen sich auch für die Landwirtschaftspolitik bei einem Beitritt der Ukraine: Bisherige Profiteure wie etwa Frankreich und Spanien müssten untendurch. Insgesamt gibt die EU etwa zwei Drittel ihres Budgets für ärmere Regionen und für die Bauern aus. Eine EU-Erweiterung würde nicht nur die Umverteilungsströme verändern, sondern auch den Druck auf eine Erhöhung des EU-Budgets und/oder eine Senkung des Umverteilungsvolumens verstärken.

Manche interne Reformen benötigen Einstimmigkeit der Mitgliedländer. Weil es kurzfristig Verlierer geben wird, ist das eine hohe Hürde. Mit raschen Entscheiden ist hier laut Beteiligten nicht unbedingt zu rechnen. Erst bei grossem Druck könnten Reformen politisch plötzlich möglich werden.

Das Europäische Zentrum für Terrorismusbekämpfung und Nachrichtdienst, Deutschland und Niederlande 

 

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